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Geißler fordert Bürgerentscheide über Megatrasse

Ressortleiterin Politik
Den Streit über Stuttgart 21 konnte Heiner Geißler als Schlichter entschärfen. Jetzt schaltet sich der CDU-Politiker in das zentrale Großvorhaben der Energiewende ein – den Bau der Nord-Süd-Trasse.

Gut zwei Monate hatte Heiner Geißler im Herbst 2010 gebraucht, um den Zorn zu zähmen. Woche um Woche setzte er sich damals mit den völlig zerstrittenen Gegnern und Befürwortern des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 zusammen, vor laufender Kamera verhandelte er mit ihnen Punkt um Punkt, vor den Augen des Publikums an den Fernsehern und an den Computermonitoren. Am Schluss stand sein Schlichterspruch für den Bahnhofsbau – und eine Bürgerstimmung, die von deutlich weniger Skepsis geprägt war als vorher.

Seit Bekanntwerden der Pläne für eine Mega-Stromtrasse von Norddeutschland nach Bayern rollt quer durch die Republik eine Protestwelle an, die in ihrem Ausmaß den Widerstand gegen Stuttgart 21 noch bei Weitem übertreffen könnte. Bürgermeister und Bürgerinitiativen betroffener Gemeinden machen mobil, vonseiten der Planer werden bereits Enteignungen von Grundstücksbesitzern ins Spiel gebracht. In den Trassenstreit schaltete sich am Mittwoch nun Heiner Geißler ein.

Geißler forderte ein mehrstufiges gesetzlich geregeltes Beteiligungsverfahren – mit Bürgerentscheiden in den jeweils betroffenen Trassenabschnitten als abschließende Mitwirkungsstufe. Der CDU-Politiker rief das Bundesumweltministerium auf, eine entsprechende Gesetzesinitiative auf den Weg zu bringen.

„Basta-Politik funktioniert nicht mehr“

„Klar ist, dass die frühere Methode nicht mehr funktioniert: Großprojekte können heute nicht mehr einfach mit einer Basta-Politik von oben nach unten verordnet und dann vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten durchgezogen werden“, sagte Geißler der „Welt“. „Wenn man Großprojekte wie die Nord-Süd-Stromtrasse umsetzen will und wenn es schnell gehen soll, dann kann man das nur mit den Bürgern schaffen – und nicht gegen sie. Dafür muss es ein geregeltes Verfahren geben.“

Der frühere CDU-Generalsekretär forderte das Bundesumweltministerium auf, so schnell wie möglich ein Gesetz zur Stärkung der Mitwirkungsrechte der Anwohner vorzulegen. „Im Umweltministerium wurde in der vorigen Legislaturperiode eine Abteilung für Bürgerbeteiligung eingerichtet, die muss jetzt aktiv werden und für die Nord-Süd-Trasse Beteiligungsverfahren erarbeiten“, verlangte Geißler. „Mit dem bisherigen Bau- und Planungsrecht kommen wir nicht weit.“

Denn nach dem bisherigen Recht kämen die Bürger nicht ausreichend zu Wort: „Sie erhalten Einsicht in die Planungen, dann werden sie in einer Turnhalle zusammengeholt, es redet einer und noch einer, es dürfen einige Fragen gestellt werden – und das war's dann. Das geht heute nicht mehr“, kritisierte Geißler. Auch das 2011 beschlossene Gesetz zur Beschleunigung des Netzausbaus helfe den Betroffenen nicht weiter, „weil es ein Basta-Gesetz ist“.

Geißler schlägt mehrstufige Bürgerbeteiligung vor

Geißler schlug ein mehrstufiges Mitwirkungsverfahren nach dem Vorbild der Schlichtung im Fall Stuttgart 21 vor: „Zunächst muss der Netzbetreiber das einlösen, was er versprochen hat: Er muss ermöglichen, dass die Menschen verschiedene Varianten des bisher geplanten Trassenverlaufs diskutieren und dann auch beschließen können.“ Der Netzbetreiber habe einen mehrere Kilometer breiten Korridor vorgesehen. Innerhalb dieses Korridors solle der Trassenverlauf variabel gestaltet werden können. Diesen Ansatz halte er für richtig, sagte der 83-jährige Geißler.

Die eigentliche Bürgerbeteiligung müsse dann mit größtmöglicher Transparenz ablaufen: „Dazu gehören umfassende Information und ein transparenter Faktencheck sowie öffentliche Verhandlungen aller Beteiligten mit den Bürgerinitiativen“, forderte Geißler. „Das alles muss im Internet und im Lokal- und Regionalfernsehen gezeigt werden, damit sich alle informieren können. Dann müssen Alternativen angeboten und diskutiert werden. Am Schluss müssen dann Bürgerentscheide stehen.“

Geißler warnte davor, den Widerstand der Betroffenen zu unterschätzen. „Die Menschen in den Bürgerinitiativen sind ja keine Feierabendrevoluzzer, sondern sie vertreten einfach ihre Interessen. Sie sind keine fortschrittsresistenten Nihilisten.“ Die Menschen wüssten, dass es Stromleitungen geben müsse, aber sie wollten nicht akzeptieren, dass die kürzeste und wirtschaftlichste Leitung auch die beste sein solle – „auch wenn sie über Friedhöfe und Vorgärten durchgezogen wird. Ein solches Projekt bleibt in Gerichtsverfahren hängen und läuft auf.“

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Der Zeitplan der Netzbetreiber von vier Jahren für die Trasse lasse sich nur einhalten, wenn alles ohne Komplikationen ablaufe. „Wenn sie alle 50 Kilometer einen Volksaufstand bekommen, dann gibt es Stillstand“, warnte Geißler.

Proteste bringen in Zeitplan ins Wanken

Die Betreiber des größten Netzausbauprojektes der Energiewende hatten vor einer Woche den geplanten Verlauf der längsten neuen Stromtrasse vorgestellt. Die rund 800 Kilometer lange sogenannte Südlink-Verbindung soll ab dem Jahr 2022 Windstrom von Schleswig-Holstein bis nach Bayern transportieren.

Deutschlands größte Stromtrasse soll durch mindestens fünf Bundesländer führen. Sie soll die Stilllegung von Atomkraftwerken im Süden kompensieren. Als Gesamtkosten werden mindestens zehn Milliarden Euro für insgesamt 36 Ausbau- und Netzverstärkungsprojekte veranschlagt. Wenn die Leitungen als Erdkabel verlegt werden, wird es teurer.

Die Trasse ist eine von drei großen Neubauprojekten im Zuge der Energiewende. Insgesamt sollen 2800 Kilometer neu gebaut und 2900 Kilometer optimiert werden.

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